
Berlin "Es ist schon ein Balanceakt, dass man respektvoll bleibt bei dem Thema"
Von Susanne Siegert kann man vieles über Nazi-Verbrechen erfahren. Sie informiert vor allem junge Menschen auf Tiktok über den Holocaust. Das funktioniere gut, sagt sie - allerdings habe das Gedenken im digitalen Raum auch seine Grenzen.
rbb: Frau Siegert, Sie klären in Ihrem Tiktok-Kanal über Verbechen der Nationalsozialisten und den Holocaust auf. Ihr Kanal heißt "Keine.Erinnerungskultur". Was bedeutet das?
Susanne Siegert: Ich habe mal einen Podcast von Jens Christian Wagner gehört, dem Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald Mittelbau Dora. Darin hieß es, dass es eigentlich falsch ist, wenn wir von einem Erinnern sprechen, wenn wir über diese Zeit reden, weil man sich nur an etwas erinnern kann, das man persönlich erlebt hat. Es gibt auch andere Konzepte zu diesem Begriff, aber ich fand es trotzdem spannend. Ich glaube, dass man sich vom Begriff Erinnerungskultur verabschieden kann, um diese Zäsur zu markieren: Es wird eine andere Auseinandersetzung sein, wenn es keine Überlebenden mehr gibt. Und dann ist es auch von uns allen Arbeit. Ich bevorzuge deswegen zum Beispiel den Begriff Gedenkarbeit.
Viele ältere Menschen denken bei Tiktok oder Instagram eher an Selbstdarstellungen, Schminktutorials oder Spaßvideos - und nicht unbedingt daran, dass es ein Ort der historischen Aufklärung ist. Wie passen Videos über den Holocaust in so ein Umfeld?
Sie passen tatsächlich sehr gut, und diese Plattformen haben sich auch sehr verändert in den letzten Jahren. Ich glaube, es ist auch ganz hilfreich, dass man in so einem Umfeld ist, wo man es erst mal nicht erwartet. Und es ist auch so ein kurz irritierender Moment, der vielleicht auch dafür sorgt, dass man sogar noch mal ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommt.
Das bedeutet natürlich, dass man sich auch an ein paar Regeln anpassen muss. Ich muss deswegen jetzt nicht Katzenvideos hochladen, aber mich ein bisschen anpassen. Wie sehen die Videos aus? Wie wird gesprochen? Also ein bisschen schneller, ein bisschen kürzer geschnitten, dynamisch, andere Sprache, als es jetzt vielleicht jemand in einer ZDF-Dokumentation machen würde. Aber ich glaube trotzdem, dass es perfekt darauf passt, weil diese Plattformen ja so funktionieren, dass sie kuratiert werden von einem Algorithmus und der entscheidet und schlägt solchen Nutzerinnen Videos vor, die wahrscheinlich von sich aus bei Tiktok niemals nach diesem Begriff Auschwitz suchen oder einer offiziellen Gedenkstätte folgen würden. Aber die sehen meine Videos, sie werden ihnen vorgeschlagen und dann merken sie: Ja, ich habe doch Interesse an dem Thema, nur wenn es eben ein bisschen anders besprochen und präsentiert wird.
Jetzt könnte ich sagen, da müssen Sachen auch mal krass genug sein, damit die Leute dranbleiben. Heißt das dann, nur die ganz krassen Sachen ziehen?
Nee, auf keinen Fall. Ich glaube, es ist natürlich schon ein Balanceakt, dass man trotzdem respektvoll bleibt bei dem Thema. Und zum Beispiel ist für mich auch eine Regel, dass ich keine Bilder zeige, die extrem grausam sind, wo man Leichenberge sieht - diese Bilder, die man ja auch kennt. Es ist auch auf Tiktok möglich, das auf einem respektvollen Weg zu machen. Das geht auf jeden Fall.

Begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit eigentlich auch Menschen, die den Holocaust leugnen oder relativieren und da mit Ihnen in eine Diskussion einsteigen wollen?
Auf jeden Fall. Aber ich muss sagen, ich lasse mich auf diese Diskussion meist gar nicht ein. Man merkt relativ schnell, ob da wirklich eine Person ist, die eine Frage hat und wirklich irgendeine Unsicherheit, die man ihr auch nehmen kann. Dann greife ich das auch sehr gern in einem Video auf und erkläre: Wo kommt ein Verschwörungsmythos her oder so?
Aber wenn es Menschen wirklich nur darum geht, zu sagen: "Mach mal was über kommunistische Kriegsverbrechen" oder "Die Juden sind selber schuld", dann lasse ich mich darauf gar nicht mehr ein. Das lösche und blockiere ich, denn denen will ich keine Plattform geben. Da eine Diskussion zu führen, kostet nur Energie, und die kann ich anderweitig einsetzen.

Wie merken Sie, dass die Leute, die Sie da erreichen, auch wirklich intensiver darauf einsteigen als nur für ein paar Sekunden Video und dann kommt das nächste und das nächste und das nächste?
Das schönste Kompliment ist natürlich zu merken, dass Leute selber recherchieren, also selber Online-Archive nutzen, die ich in meinen Videos zeige, um ihnen zu sagen: so könnt ihr zu euren eigenen Wohnorten recherchieren oder auch zu Familienbiografien. Und wenn Leute Fragen stellen, ist das natürlich auch superschön. Da merkt man auch, dass oft das Wissen sehr basic ist, dass Leute dann Fragen stellen, wo ich mir schon denke: Okay, das ist eigentlich schon das, was man auch in der Schule lernen sollte. Dass zum Beispiel eben nicht nur deutsche Juden und Jüdinnen verschleppt wurden, das hat bei meinen Zuschauer:innen schon ein, zwei Mal für ein bisschen Irritation gesorgt.
Es ist schön, in einem Raum zu sein, wo Leute Fragen stellen, und zu merken, da passiert dann schon etwas. Und zu merken: Die haben da ein Interesse, aber eben vielleicht nicht im schulischen Kontext.
Glauben Sie eigentlich, dass Gedenkorte wie Konzentrationslager trotzdem in Zukunft weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden, wenn die Aufklärung über den Holocaust vielleicht bei Tiktok stattfinden kann?
Auf jeden Fall. Mein Account ersetzt wieder Schule noch Gedenkstätten, Museen oder Dokumentation. Das ist immer eine Ergänzung an einem Ort, wo junge Menschen extrem viel Zeit verbringen. Aber ich glaube, einen Gedenkstättenbesuch, der freiwillig passiert, der vorbereitet, nachbereitet ist, kann nichts ersetzen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Amelie Ernst und Marie Kaiser.
Sendung: Radioeins, 24.04.2025, 07:40 Uhr