Nadeschda Tolokonnikowa führt eine politische Protestaktion von Pussy Riot vor dem Indiana Statehouse in Indianapolis an.(Quelle: imago images/Michelle Pemberton)

Berlin "Kunst und Aktivismus sind für mich immer Hand in Hand gegangen"

Stand: 01.05.2025 09:33 Uhr

Sie saß in russischer Lagerhaft und steht noch heute auf Fahndungslisten: Nadeschda Tolokonnikowa, die mit dem feministischen Kollekiv "Pussy Riot" berühmt wurde. Jetzt stellt sie in Berlin ihre Kunst aus, die oft auch politisch ist, wie sie im Gespräch erzählt.

rbb: Frau Tolokonnikowa, wie würden Sie die Beziehung zwischen Ihrer Kunst und Ihrem Aktivismus beschreiben?
 
Nadeschda Tolokonnikowa: Kunst und Aktivismus sind für mich immer Hand in Hand gegangen. Ich habe mich immer in erster Linie als Künstlerin verstanden. Meine Kunst ist oft politisch, weil das meine Art zu denken ist. Ich habe mich schon als Kind für Politik interessiert und später politische Philosophie studiert. Ich mag es auch, die Welt im Detail zu erkunden, ich mag es, die Schatten zu sehen, nicht nur schwarz und weiß. Das ist es also, was ich in meine Kunst einbringen möchte. Die Dinge, die ich heute in den Galerien zeige, sind sehr persönlich und intim.

Sie wollen damit also sagen: Das kommt von Nadya Tolokonnikowa – und nicht von "Pussy Riot"?
 
Ja. Die Ausstellung "Wanted" ist ein persönliches Projekt von mir.

Wir sehen in Ihren Kunstwerken Birkenholz, Silber, Schwarz und etwas Rosa. Wie wählen Sie die Materialien und Farben aus, mit denen Sie arbeiten?
 
Dies sind meine persönlichen Obsessionen, und viele der Dinge, die Sie in der Ausstellung sehen, sind Teil meiner Reise, meine Herkunft neu zu erforschen und Teile und Stücke herauszusuchen, auf die ich immer noch stolz bin. Für mich persönlich und auch auf gesellschaftlicher Ebene ist es problematisch geworden, Russin zu sein. Vieles von dem, was Sie sehen, ist ein Teil meines Volkes, auf den ich immer noch stolz sein kann. Die Ikonografie spielt in diesem Werk eine große Rolle. Ich habe auch Seiten aus einer sehr alten russischen Bibel verwendet. Es hat mir sehr das Herz gebrochen, sie zu zerreißen, aber vielleicht habe ich es geschafft, ihr ein neues Leben zu geben. Ich bin besessen davon, Dinge historisch und alt aussehen zu lassen, ohne sie kitschig wirken zu lassen.

Sie verwenden Symbole wie Stacheldrahtzäune und Polizeischilder. Auf die Schilder haben Sie Blumen eingraviert. Warum haben Sie sich für diese Symbole entschieden?
 
Ich mag Kontraste sehr. Auch der Name Pussy Riot ist ein Kontrast. Es geht um etwas, das in der Gesellschaft traditionell als etwas Weiches angesehen wird. Riot ist das Gegenteil davon.
 
In allem, was ich tue, in meinem Leben, in meiner Kunst, in meinem persönlichen Stil, breche ich gerne Erwartungen. Als wir zum Beispiel aus dem Gefängnis kamen, erwartete jeder von uns, dass wir eine Punkband sind. Wir waren aber nie eine Musikgruppe. Das ist das größte Missverständnis über uns. Wir sind eine Gruppe von Künstlerinnen. Ich war damals an Songwriting interessiert und beschloss, ein Pop-Album zu machen. Ich wurde dafür verurteilt, weil es etwas war, das den Erwartungen widersprach.

Wenn ich zu Kundgebungen gehe, trage ich einen Hello-Kitty-Rucksack, weil ich möchte, dass die Polizisten albern aussehen, wenn sie mich verhaften.

Für mich ist das die Definition von echtem Punk: immer den Status Quo und die Erwartungen in Frage stellen, immer etwas Neues machen. Wenn ich zu Kundgebungen gehe, trage ich einen Hello-Kitty-Rucksack, weil ich möchte, dass die Polizisten albern aussehen, wenn sie mich verhaften. Es geht auch darum, die Macht des Süßen und der Weiblichkeit zurückzuerobern. Viele Frauen, die sich als stark identifizieren, übernehmen maskuline Strategien. Und irgendwann wurde mir klar, dass das etwas frauenfeindliches an sich hat.

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Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihre Gefängniszelle als Kunstwerk nachzubauen?
 
Es geht darum, mein Trauma zu heilen. Ich bin wirklich traumatisiert durch die zwei Jahre im Gefängnis. Es ist keine so lange Zeit, aber es hat mich gezeichnet und ich lebe immer noch mit den Folgen. Die Kunst hilft mir, meine Zeit im Gefängnis zu verarbeiten. Ich rekonstruiere eine traumatische Situation zu eigenen Bedingungen. Ich zeige in der Zelle die Dinge, die mir im Gefängnis wichtig waren, beispielsweise Zeichnungen von meiner Tochter. Es sind Symbole für mein Zuhause und meine Lieben und Symbole des Widerstands. Es gibt auch einen Brief über meinen Hungerstreik. Ich möchte, dass die Menschen in der Zelle sitzen, um zu verstehen, wie ernst die Lage ist, in der sich Menschen in Russland, insbesondere Künstlerinnen und Künstler, befinden, wenn sie ein politisches Statement machen.

Ihre Ausstellung heißt "Wanted" und Sie stehen auf der russischen Fahndungsliste sogenannter Krimineller. Was bedeutet das für Ihr Leben?
 
Vor zwei Jahren wurde ich wegen einer Ausstellung mit dem Titel „Putins Ashes“ auf Russlands Fahndungsliste gesetzt. Und vor ein paar Monaten geschah etwas noch Gravierenderes: Ich wurde auf die internationale Fahndungsliste gesetzt. Da Russland wegen des Krieges in der Ukraine derzeit nicht direkt mit Interpol zusammenarbeitet, ist es an Russland, mit jedem einzelnen Land Vereinbarungen über die Auslieferung zu treffen. Das Beängstigende daran, auf Russlands internationaler Fahndungsliste zu stehen, ist, dass ich nicht weiß, wohin ich sicher reisen kann und wohin nicht. Und ich will es nicht versuchen, weil der Preis sehr hoch ist. Wenn ich nach Russland zurückgeschickt werde, werde ich wahrscheinlich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen.

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"Putins Ashes" ist auch Teil Ihrer aktuellen Ausstellung. Es gibt ein Video, in dem Sie mit Pussy Riot ein Porträt von Putin anzünden. Am Ende wird die Asche einge sammelt. Wie war es für Sie, dieses Video zu drehen?
 
Für mich als Künstlerin war es unerträglich, weil ich Putins Gesicht nicht mag. Und ich habe lange gezögert, ob ich in einem Kunstwerk mit seinem Gesicht zu sehen sein will, aber es war sehr befriedigend, sein Porträt verbrennen zu sehen und dann seine Asche einzusammeln.

In Ihrem Buch "Anleitung für eine Revolution" schreiben Sie, dass es für Sie bereits 2011 schwer wurde, in Russland zu leben. Damals wurde bekannt, dass Putin ein drittes Mal für die Präsidentschaft kandidieren würde. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
 
Pussy Riot entstand, weil Putin ankündigte, für eine dritte Amtszeit als Präsident zu kandidieren. Das klang wirklich bedrohlich, denn rechtlich gesehen ist nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten Schluss. Als Putin die Ankündigung machte, weinte ich drei Tage lang. Ich war sehr jung, ich war 22, aber ich hatte das Gefühl, dass dies der Anfang vom Ende für mein Land ist. Ich wollte auf die Straße gehen und schreien und die Menschen auffordern, mit mir auf die Straße zu gehen, bis Putin weg ist. Dieser Moment war viel heiterer als das, was wir heute haben. Wenn 2011 nur ein Vorgeschmack auf den kommenden Autoritarismus war, haben wir 2025 eine vollwertige autoritäre Regierung.

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Was gibt uns die Kunst von "Pussy Riot" in Zeiten zunehmender autoritärer Tendenzen in so vielen Ländern?
 
Ich glaube nicht, dass Kunst etwas schnell ändern kann. Kunst ist etwas, das in den Köpfen der Menschen wirkt, und dann treffen sie andere Entscheidungen. Manchmal dauert es Generationen, bis sich ein politischer Wandel vollzieht. Kunst kann zu anderen Ergebnissen führen, als erwartet. Ich werde von sehr jungen Menschen aus Belarus und Russland angesprochen. Sie erzählen mir, dass sie sich geoutet haben, weil sie mit der Kunst von Pussy Riot aufgewachsen sind und von ihr inspiriert wurden. Kunst führt folglich zu sehr persönlichen Veränderungen im Leben der Menschen. Ich kann also nicht beantworten, wie Pussy Riot die Welt verändern kann, aber ich weiß, dass sie das Leben der Menschen verändern kann.
 
Vielen Dank für das Gespräch!
 
Das Interview mit Nadeschda Tolokonnikowa führte Anne Kohlick für rbbKultur.
 
Der Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen.

Sendung: rbbKultur - das Magazin, 26.04.2025, 18:30 Uhr